zum 1. Essai: Fortsetzung

Summum bonum
Zwingli setzt das summum bonum an die Spitze, das höchste Gute, oder das höchste Gut. Er meint das Gute, das aber zugleich den Menschen das höchste Gut sein sollte. Aus dem summum bonum deduziert er mit fast beängstigender Logik seine theologischen Grundgedanken. Selbstverständlich setzt er das höchste Gut mit Gott gleich. Gott nennt er oft numen, also das Neutrum Gottheit. Zitat aus der deutschen Übersetzung (1995), S.141 und 142: "(...) das höchste Gut heisst es deshalb, weil es alleine und von Natur aus gut ist, und was auch immer als gut verstanden werden kann, das ist jenes höchste Gut. (...) Das heisst: es ist insoweit gut, als es von ihm, dem Guten (also Gott) kommt, weil es in ihm, dem Guten, ist und weil es zur Ehre jenes Guten ist." Daraufhin zeigt er, dass der Gottheit, weil sie das höchste Gut ist, Wahrheit und Macht zukommen. "Wenn die höchste Gottheit das höchste Gut ist, dann bezieht sich auch die Wahrheit auf das Gute, so dass das höchste Gute nicht sein kann, wenn es nicht wahr ist und geradezu die Wahrheit selbst ist; und weil das Höchste wahr ist, ist es ebenso auch höchste Kraft und Macht" (IV, S.144) Nachdem er dies deduzierend postuliert hat, macht er die Gegenprobe und kommt an den Punkt, auf den es ihm ankommt: Das höchste Gut kann, wenn es alles voraussieht, nicht untätig bleiben - oder es verwandelt sich in sein Gegenteil: "Geh zuletzt davon aus, dass es zwar die Wahrheit ist, die alles bis ins Innerste anschaut, aber dennoch nicht für das vorsehen kann oder will, was seiner Weisheit unterstellt ist. Einen solch ärmlichen und neidischen Weisen könnte man sich zwar vielleicht vorstellen, der, obwohl er das Entstehende vorhersehen könnte, dennoch einem Ding, das der Unterstützung und der Hilfe bedarf, weder beistehen noch Hilfe leisten kann, oder, wenn er es könnte, aus Neid dennoch nicht wollte. Das ergäbe einen ohnmächtigen, blutlosen und lahmen Gott, ferner auch einen neidischen, leichenblassen und grausamen. Der ist aber so weit davon entfernt, als dass er Gott sein könnte, dass er auch der Teufel und das Verhängnis selbst in diese Beschreibung einschlösse." (S.145) [Es gibt nur wenige theologische Entwürfe, die genau betrachtet, darauf verzichten, Gott eine drohende Seite zuzuschreiben, also Gott ärmlich und neidisch zu machen, einen Gott, der den Menschen die angebliche Entscheidungsfreiheit gibt, das Unheil zu wählen, oder sich zu bekehren. Ich denke, dass der Begriff der Gnade schon an sich zwiespältig ist, und demzufolge auch der Begriff des Glaubens kritisch hinterfragt werden müsste. Das ist schwierig, weil es eine eigentliche kritische Theologie nicht gibt, die ausserhalb des Glaubens oder auch nur ausserhalb des kirchlichen Rahmens operieren könnte.] Zwingli definiert dann die Providentia Gottes. "Daher definieren wir sie folgendermassen: Vorsehung ist die immerwährende und unveränderliche Herrschaft und Verwaltung aller Dinge. Unter Herrschaft verstehe ich die Macht, die Autorität und die Würde der Gottheit, über die ich vorher genug gesagt habe, indem ich gezeigt habe, wie das höchste Gut aller Dinge mächtig sein muss. Da aber diese Macht nicht gewalttätig ist, nicht bösartig, tyrannisch und daher verhasst und unerträglich, habe ich die Würde und die Autorität in die Definition der Herrschaft hineingenommen, wodurch ich ausdrücken wollte, dass die Herrschaft der Gottheit so gewissenhaft, so heilsam, so willkommen und angenehm ist, dass keiner, der sie wenigstens oberflächlich kennen gelernt hat, gehorchen muss, ohne es zu wollen. Die Verwaltung habe ich jedoch sowohl wegen der Mässigung der Herrschaft hinzugefügt, damit sie nicht jemand, wie ich schon gesagt habe, für unheimlich ansieht, als auch wegen der grossen Zahl aller Dinge. Denn Gott befiehlt nicht wie die Menschen, die, sobald sie an die Macht gekommen sind, fordern, dass ihnen alles für die Besorgung und Verwaltung des Staates gegeben wird. Sondern jener beschafft allen alles, indem er nichts dazu fordert, als dass wir das, was er freigebig gegeben hat, heiter und dankbar annehmen. Da er nämlich nichts nötig hat, und da er ferner der wohlhabenste von allen ist und zuletzt gut und gütig, ja ein Vater der Dinge, die er geschaffen hat, folgt, dass er im Geben weder ermüden noch erschöpft werden kann; so kommt, dass er Freude am Geben hat und gar nicht anders kann als geben." (S.148-149) Zur Bekräftigung noch ein zusammenfassender Satz, etwas weiter unten, S.150: "Die Vorsehung ist daher fest, weil die Gottheit von unfehlbarer und gewisser Weisheit ist, weil sie eine unermüdliche Macht und ihre Güte unantastbar ist." Unantastbar ist lateinisch inoffensa. Offendere heisst anstossen, antasten, aber auch Unwillen erregen. In-offensa heisst demnach: Gottes Güte kann nicht gestört, nicht beleidigt, nicht gekränkt werden. Die Übersetzung scheint mir gerade das zu vertuschen. Noch ein zweites Wort ist mir aufgefallen, das genau gegen Zwinglis Intention interpretiert wurde. "...dass keiner, der sie (die Macht Gottes) wenigstens oberflächlich kennen gelernt hat, gehorchen muss, ohne es zu wollen." Der Satz ist zentral in Zwinglis Theologie, aber in der Fassung, die er ihm gab. Was da mit "kennen lernen" übersetzt ist (wie Zielformulierung für Unterricht: Die Schüler lernen die Güte Gottes kennen), heisst im Text "(agnitionem) degustarit", und das verstehen Sie auch ohne Latein. Es heisst spüren, kosten, schmecken, riechen, sehen, also: sinnlich. Wieder: Zwingli verweist auf die Sinne, das Erleben zurück. Die Übersetzung verwischt gerade diesen Punkt: als ob nichts zu erfahren wäre. Ich würde den Satz, zum Teil nach Leo Jud, ebenfalls 1530, so übersetzen: "dass die Macht und Gewalt Gottes so religiosum/ehrbar, sanctum/heilig, gratum et iucundum/ wertvoll, angemehm und lieblich ist, dass niemand ohne zu wollen gehorcht, der dessen Erkennen nur wenig oder (vel summis labiis, kann ich nur übersetzen:) mit vollen Lippen gekostet hat." Der zentrale Link, den Zwingli hier macht, ist, dass das Regieren Gottes und das Wollen des Menschen ineinsfallen, und dass Gott auf diese Weise alles bestimmt: keine grausame Tyrannei oder gewalttätige Wüterei, kein neidisches Warten auf das Versagen, die Sünde, kein Beharren auf zerknirschte Unterwerfung, es geht vielmehr von selbst.  

Und die Welt

Ich überspringe vieles, wo Zwingli nach den Kenntnissen seiner Zeit die Welt bespricht und Bestätigungen seiner Thesen zusammenträgt. Die Erde, die Sterne, die Tiere kommen daran und die Philosophen. Von den Pythagoräern schreib Zwingli, dass sie zu Unrecht verspottet werden, weil sie die Seelenwanderungslehre vertraten, wie auch Gaius Plinius für seinen Satz, die Macht der Natur sei das, was wir Gott nennen (S.161). Plato, Seneca werden zu Zeugen, und schliesslich schreibt er: "Der Sarazene Abdala sagte, dass von allem, was im Theater der Welt zu sehen ist, der Mensch das Wunderbarste ist." Ohne mit der Wimper zu zucken, führt Zwingli einen Muslim als Zeugen für seine christliche Theologie an, wobei er zugleich die Hochschätzung des Menschen von den Renaissancephilosophen übernimmt. Und es fällt ihm leichter, diesen Muslim als verwandten Denker zu verstehen, als seine konservativ-kirchlichen Gegner, und ich meine: sogar als Luther.  

Mystik ?

Ich bin zufällig einigen Sätzen begegnet, die am besten zusammenfassen, wie Zwingli Gottes Verhältnis zur Welt versteht: "Das Verhältnis (des Menschen) zu Gott ist ein Verhältnis zur Welt, denn Gott wohnt in der Welt. Gott schliesst die Welt in sich ein, und doch wohnt Gott in der Welt." Das Zitat stammt von Ruth Dinesen, Nelly Sachs, Biografie. Es bezieht sich auf Martin Bubers Beschreibung des Chassidismus und der Kabbala - also der jüdischen Mystik. Meine These ist, dass Zwinglis Theologie ähnlich strukturiert ist wie diese Mystik. Ich habe schon erwähnt, dass Zwingli sicher Kenntnis hatte von jüdischer Mystik, aber ich will deshalb nicht behaupten, er habe seine Gedanken dort geholt. Aber neben dem Lebensgefühl und dem Kulturbewusstsein der Renaissance spielt meines Erachtens die jüdische Religionskultur ebenfalls eine grosse Rolle als Hintergrund seines Denkens.      

Überleitung: das Heilige und die Macht

Zwinglis Vorstellung lässt die Gottheit überall in der Welt anwesend sein und wirken, ohne Leerstelle oder Mangel. Demzufolge lässt sich das Heilige nicht lokalisieren, weder lokal noch ideologisch. Der Gegensatz Kirchlich - Säkular macht in Zwinglis Theologie keinen Sinn. Genau umgekehrt hatte es sich in der Kirche entwickelt. Da Gottes Wirken wunderhaft und in die Welt einbrechend gedacht wurde, war der Glaube an die Ausnahmeerscheinungen gebunden. Das Heilige war nicht von dieser Welt, und je mehr ein Mensch nicht von dieser Welt war, je weniger er mir der Erde verknüpft war, desto heiliger war er. Keine Sexualität, kein Essen, kein Trinken, möglichst 40 Tage. Diese Lokalisierung des Heiligen gegenüber der sogenannt säkularen Welt, die wie heidnisch gesehen wurde, verpflichtete die Kirche zum Wächteramt über das Heilige und machte sie zur Spenderin des Heiligen an die sündigen Menschen. (Das war die Position der Erweckungsbewegung anfangs des 19.Jahrhunderts und der Freikirchen bis heute, im Prinzip auch der Täufergruppen zur Zeit Zwinglis.) Durch Schutz und Spende des Heiligen bedingt entstand die Macht der Kirche. Weil sie das Heilige als Monopol, d.h. als auserwählte Braut Christi verwaltete, gab es ausserhalb der Kirche kein Heil, und die Kirche musste zwangsläufig zu Gewaltmitteln greifen, um das Heilige vor den Menschen und ihren Angriffen zu schützen. Das hiess auch, über die Seelen der Menschen zu herrschen, um sie auf dem Weg des Heiles zu halten. Zwingli hat diesen Zusammenhang gesehen und als theologisches Problem behandelt, aber er hat auch am eigenen Leib erlebt, dass die Kirche Macht an ihm ausübte und sogar das Recht über seinen Körper beanspruchte. (> 2. Essai)     19.11.08