2. Essai: Reformation

Reformation des Lebens

1) Was hat Zwingli mit Drogen, Bars, Partys, Street Parade und Erotik zu tun ?
 
Nichts, würde ich gerne sagen, aber das ist nicht wahr. Wie so oft erschien vor kurzem sein Name in einem Artikel zur Haschinitiative, über die am 30.November abgestimmt wird. Da hiess es, die Behandlung von Drogensüchtigen mit Methadon geschehe nach der Devise: "Wenn die schon nicht aufhören wollen, soll es wenigstens keinen Spass machen." Kommentar der Journalistin: "Zwingli lässt grüssen." Die Sätzchen der Journalisten sind zwar verschieden, aber der Sinn ist stereotyp: Zwingli als Symbol der Genussfeindlichkeit und der öden, grauen Stadt. Woher kommt dieses Zwinglibild, das jedermann sofort zur hand ist? Sicher nicht von den Journalisten, die Artikel schreiben. Woher aber kommt die Leichtigkeit, mit der man Zwingli als typisch zürcherisch lebensvermiesende Figur aus der Tasche zeiht wie ein Schiedsrichter die Rote Karte? Um die Langeweile des zürcherischen Wesens auf seine Wurzeln, wie man meint, zurückzuführen? Suchen wir nach Indizien, führen sie mich vorläufig auf ein Doppeltes: Auf Vorkommnisse in Zwinglis Leben und auf die Behandlung dieser Vorkommnisse durch die schreibenden Zwinglikenner. In der Biografie von Prof.Oskar Farner, auch noch Pfarrer am Grossmünster, Band 2, erschienen 1946 wird die Wahl Zwinglis nach Zürich ausführlich, wie fast alles, behandelt. Der Ton Farners wird anders, als er berichten muss, dass vor der Wahl eine Schwierigkeit eintrat, die die Wahl einen Moment lang infrage gestellt habe. Mich interessiert zuerst, wie Farner 1946 mit dieser Schwierigkeit umgeht. Vorausschicken muss ich, dass Zwingli zum Zeitpunkt der Wahl,  Dezember 1518, noch traditioneller Priester war und zölibatär lebte und leben wollte, bzw. leben musste. Darauf geht Farner mit keinem Wort ein, als ob es normal wäre, zölibatär zu leben, ja sogar ideal, denn er spricht mit Bedenklichkeit, fast Ärger von Zwinglis Verfehlungen, von betrübenden Schatten und von kläglichem Versagen, das in Zwinglis Vorleben (er meint die Zeit vor der Reformation) stattgefunden habe. Was ist der Gegenstand solcher Bedenklichkeit? Zwingli hatte sich, trotz aller Bemühungen, keusch zu leben, in Einsiedeln mit einer Barbierstochter eingelassen. Im Vorfeld der Wahl wurde es gerüchtweise bekannt. Zwingli reagierte mit einem Brief an die Wahlkommission und legte den Sachverhalt offen dar, mit dem Schuldbewusstsein des Priesters, der sich vorgenommen hatte, "keine Frau mehr zu berühren", und es dann doch wieder tat. Ca. 1830 ist Prof. Johannes Schulthess auf den Brief im Pfarrarchiv des Grossmünsters gestossen. In grosser Bestürzung - hatte sich Zwingli nicht als Reformator unmöglich gemacht,  hätte man ihn nicht abschaffen müssen, oder - den Brief vernichten. Aber er verbrannte den Brief nicht, er zog ihn von der Kerzenflamme zurück, die die Kunde von Zwinglis Sexualität für immer zum Verschwinden gebracht hätte, und sagte zum anwesenden Kollegen, wie mündlich berichtet wurde: "Der Protestantismus ist die Wahrheit, die Wahrheit unter allen Umständen". Und so schreibt dann Farner 1946, müssten nun alle Biografen Zwinglis über "sein Fallen" berichten, also über einen gefallenen Reformator, und er warnt: "da soll man nur nicht beschönigen wollen", denn in seinem Fall sind sittlichen Begriffe noch unerweicht, nicht, wie er es für die Renaissance beurteilt, mit einer Moral, die in meinen Ahnungen nichts erweichen konnte. Nun, man soll auch solche Beschreibungen, die aus dem Nebel ewig reiner, endlich erreichter Moral aufsteigen, nicht beschönigen. Wirkungsvoller als alle Gebote und moralischen Belehrungen, betont man, dass Zwingli sogar gefallen sei, bevor er die sogenannte "evangelische Wahrheit" erkannt habe, im Vorleben. Widerlich sei Zwinglis Entschuldigung, es hätte sich um eine Dirne gehandelt, was doch auf seine Moralität ein umso bedenklicheres Licht werfe. Der Abscheu des Kommentators vor Zwinglis Tun, der in Abscheu vor Sexualität überhaupt zu wurzeln scheint, entzieht Zwingli wirkungsvoller jede Sinnlichkeit, als er es selbst gekonnt hätte. Der Zwingli, der 2008 angeblich grüsst, ist das moralische Symbolkonstrukt der Professoren- und Pfarrergenerationen von 1800 bis heute. Kein Gedanke daran, dass der Zölibat eine widernatürliche Ordnung sein könnte, die in keiner Weise der Wahrheit entsprach, was aber Zwingli bald danach erkannt hat.  

2) Was macht ein Reformator mit der Sexualität?
Was ist in ihm vorgegangen? Er, der im Ruf stand, ein sinnenfreudiger Mensch zu sein, nur schon seine Liebe zur Musik galt als anstössig, einer der mit seiner Sinnlichkeit zu kämpfen hatte mit aller Ernsthaftigkeit, solange er glaubte, dass es verboten sei. Er muss den Glauben, der am Zeugnis der Kirche hing, verloren haben. Der Weg zum Reformator führte ihn persönlich zum Bruch mit der Kirche. Er zog eine lebendige Frau der Kirche vor. Das Fleisch im Bett dem Fleisch auf dem Altar: Er hat geheiratet, heimlich, doch wohl nur darum, weil die "ehelichen Werk", wie es damals hiess, ihm wichtig genug waren, die Kirchengesetze ausser Kraft zu setzen. Sich abzusetzen von der Kirche, die seinen Körper im Griff haben wollte, und diese Kirche auch gerade abzuschaffen, weil sie nicht Grund habe in der Heiligen Schrift, wie Zwingli es ausdrückte: Es gebe nur zwei Formen von Kirche, sagte er in der 2.Zürcher Disputation, die himmlische in den Händen Gottes und die Kirchgemeinde an jedem Ort. Wieder ist da Heilige entweder im Himmel, oder an jeden Ort verteilt. Somit sind, schreibt Zwingli, die ehelichen Werk nicht Sünde, aber man kann es übertreiben, wie man auch das Brotessen übertreiben kann, dass es Sünde ist. Schon hier kann ich den Versuch machen, die Veränderung des Grundprinzips des Umgangs mit dem Heiligen in bezug auf das Handeln zu formulieren: Wurde in der traditionellen Kirche das Heilige senkrecht von oben punktuell, d.h. wunderhaft, auf die Erde gesenkt und demzufolge aus den Handlungsmöglichkeiten die unheiligen herausgeschnitten und vom Heiligen ferngehalten: Essen, Trinken, Sexualität, natürlich auch alles, was man als Verbrechen kannte. Leider musste man das meiste dann doch wieder erlauben, wollte aber ausserordentliche Menschen als Vorbilder und Verteiler des Heiligen: die Priester. Zwingli dreht das alles ins Waagrechte: Wenn in allem Gott tätig ist, gibt es kein generelles Verbot. Stattdessen geht es darum, den Lebensprozess in Gang zu halten und Unglück möglichst zu vermeiden, den Lebensprozess, der von Gott kommt. Und da ist es doch nicht zu erwarten, dass Gott in seiner freundlichen Macht (lat. potentia) die Impotenz fordern oder fördern sollte. Die Gefährdungen heissen Verweigerung und Ausschweifung. Während die Ausschweifungen sich allgemeiner Bekanntheit und einiger Beliebtheit erfreuen, sind die Probleme der Verweigerung weniger bekannt. Die Verweigerung kann darin bestehen, dass man sich der Heiligkeit wegen weigert, seinen Lebensunterhalt zu bestreiten und im Kloster sitzt, und sich mehr zu sein dünkt, als die andern. Die Verweigerung kann auch heissen, dass man seinen Reichtum ausstellt, um sich von den anderen zu unterscheiden. Oder mehr Rechte beansprucht als andere. Die Sittenmandate zur Zeit Zwinglis waren nicht strenger, als an anderen Orten, etwa Luzern. Die generellen Verbote des Theaters, des Tanzens etc. folgten viel später. Ich denke, dass die Schwierigkeit der Zwinglischen Konzeption ist, dass sie, wenn die Vorstellung des Gewissens dazwischen tritt, eine Tendenz bekommt, niederdrückend zu werden, und durch die ansteckenden Skrupel wurden die Seelen starr. Inbesondere die Pfarrer scheinen sich eine Ehre aus der Rigorosität gemacht zu haben, allerdings wohl durch den Einfluss Calvins, der in der zweiten Hälfte des 16.Jahrhunderts einsetzte. Oskar Farner aber und seine Kollegen waren Funktionäre einer Kirche, die wieder erstanden war, mit den Folgen, die ich an der Anekdote um Zwinglis Krämpfe mit der Sexualität gezeigt habe. Zwingli blieb nicht im Zölibat. Seine Bewunderer aber stülpten ihm die Kappe ihrer eigenen Unterwerfung unter übergeordnete Moralitäten und der Unselbständigkeit ihrer Kindschaft in der Kirche über, und schon haben wir die gräuliche Figur, die im Fundus des Kasperlitheaters journalistischer Stereotypen bereitliegt.   Zwingli ist vierfach zu Tode gebracht worden. Zuerst wurde er im zweiten Kappelerkrieg erschlagen, dann verbrannten die Luzerner ihn als Ketzer, drittens wurde er anschliessend in Zürich totgeschwiegen, und viertens fand er den Tod in Büchern, die über ihn geschrieben wurden. Kein Wunder erscheint er als graues Gespenst.  

3) Nebenformen der Interpretation
In meiner Skizze zwinglischer Theologie bleibe ich noch bei seinen Wiederentdeckern, die, das möchte ich auch gesagt haben, wenn ich sie schon kritisiere, Beachtliches geleistet haben. Das beschriebene Problem lässt sich aber noch etwas differenzieren. Prof. Emil Egli (der die einzige kritische und vollständige Ausgabe von Zwinglis Werken im Corpus reformatorum zusammen mit Prof. Georg Finsler begonnen hat) schrieb 1905 in der Einleitung zu Zwinglis Schrift über das Fasten: "Von Luther ausgehend, ist man leicht geneigt, in der subjektiven Befreiung aus der kirchlichen Knechtschaft da reformatorische Interesse schlechthin zu finden. Gewiss ist Luther nach dieser Hinsicht das klassische Vorbild..." (I,79) Und etwas weiter unten, Zwinglis Gemeinde und die Stadt Zürich seien "der 'vorderste' Ort einer Eidgenossenschaft, die ihrerseits sich bereits vom Reich gelöst und zu eigener nationaler Entwicklung erhoben hat. Damit gab es sich von selbst, dass der Zürcher Reformator der schweizerische, sein Reformationswerk aber wesentlich ein selbständiges und eigenartiges wurde. Man ersieht diese Eigenart schon aus den Hauptinteressen, von denen aus Zwingli gegen die kirchliche Verderbnis protestiert: während Luther vorwiegend vom direkt religiösen Interesse ausgeht, so Zwingli vorwiegend vom ethischen und verständigen." (I,79) Schön ist die Unterscheidung von Luther und Zwingli, ergänzt noch durch die Bemerkung, Luther sei Mönch und Hochschullehrer, Zwingli aber Weltpriester, Leutpriester gewesen. Der Schluss jedoch ist 19.Jahrhundert: Sujektive Befreiung und das direkt religiöse Interesse werden parallel gesetzt, der individuelle Glaube als wahre Religion und einzige Religiosität. Das ist bei Zwingli nicht so. Das direkte zwinglische Interesse ist ebenso theologisch, erscheint aber in einer Form, dass es meist als ethisch und verständig interpretiert wird, wenn es mit dem Massstab der individualistischen Glaubenskonzeption der Theologie betrachtet wird. Man vergisst, dass die Theologie des Glaubens eine ethische Regel ist, weil der Glaube nicht anders geht, als dass man die Vorgaben glaubt, und das als das Wesentliche betrachtet, und die Ethik darin besteht, dass man im Verhältnis zu Gott zuerst die anderen vergisst und erst sekundär sich an diese gewiesen fühlt.  
4) Konsequenzen

Es gibt ein Bild das Luther beim Predigen darstellt. Links die Zuhörer, in der Mitte Luther auf der Kanzel, der mit der linken Hand auf das Kruzifix weist. Die abgebildete Struktur des Glaubens, der die Kunde des Evangeliums von der Kanzel vernimmt. Im Grossmünster ist heute die Kanzel am selben Ort, wie auf dem Lutherbild, nur ist Raum, wo man hinschaut, leer, weil man im 19.Jahrhundert zwar Zwingli korrigierte, aber doch nicht einen Altar aufzustellen wagte. Zwingli dagegen liess eine Kanzel vorne Quer vor den Chorraum auf einen Lettner bauen. Sein Begriff für das Predigen war "lehren". Die Leute sollten hören, was in der Bibel steht, wie man es erklären kann und damit leben. Und anstelle der Bilder waren sie, die Leute einander die Bilder Christi, Zwingli schrieb "besonders die Armen". Somit kreiste die Theologie schon im Kirchenraum zwischen Wort, Verstehen und Umsetzung im Sehen der Menschen herum, und das Kreisen konnte sich ausserhalb des Kirchenraumes fortsetzen, wo es ebenso heilig war, wie in der Kirche, schliesslich war (oder ist ?) Gott auch in den Pflastersteinen auf der Kirchgasse (sofern es hatte!), wie im Brot des Abendmahls, das kurz vor dem Heimweg verteilt worden war. (Aber ich greife vor und bringe alles durcheinander.) Zwingli versucht das Vertrauen in die Göttliche Regierung zu wecken, das sich dann aus dem Kosten (degustare) von Gottes alles umfassender Güte und Tätigkeit ergibt. Darum handelt man dann in der Verlängerung dieser Güte, um sie zu verbreiten und selbst desto mehr in Genuss dieser Güte zu kommen. Das ist das allgemeine Prinzip.  

5) Armenwesen
Hierzu gehört eine der revolutionärsten Einrichtungen der Zürcher Reformation: das staatliche Armenwesen. Wenn man Zwinglis Schriften aufmerksam liest, findet man in den Texten zu den Bildern, zur Messe, zu allen Fragen der Liturgie die Bemerkung, dass das Geld, dass für die Gebäude und für den Schmuck und für liturgische Geräte gebraucht wird, eigentlich für die Armen bestimmt sei, und dass es diesen (zurück-) gegeben werden soll. Die Konsequenz war, dass das Betteln bzw. das Almosengeben abgeschafft und durch geregelte Zahlungen und tägliche Speisung ersetzt wurde. Revolutionär darum, weil dadurch die Sorge um die Menschen, die sich ihren Lebensunterhalt nicht beschaffen konnten, oder die benachteiligt waren, als Aufgabe den Stadtbehörden übergeben wurde, in der Verantwortung der Gemeinde, die mit der Stadt identisch war. Es war der Anfang eines Sozialstaates. Die eine Begründung war, dass wir alle für die Lebensmöglichkeiten aller im Leben verantwortlich sind, die andere, dass die Armen Bilder Christi sind, also Bilder des Heiligen, des göttlichen Lebens. Und für alle gab es im Abendmahl die billigsten Geräte, nämlich Holzbecher, bis ins 19.Jahrhundert.  

6) Ergänzung zur Mystik - und die Funktion der Bibel
Ich füge noch eine Ergänzung zur etwas kurz geratenen These an, Zwinglis Theologie lasse sich am ehesten mit Konzepten jüdischer Mystik verstehen. Auch hier eine Unterscheidung. Die jüdische Mystik ist keine Mystik der Versenkung in Gott oder eines ausgeprägten persönlichen Liebesverhältnisses mit Gott, sondern die Versenkung in die Welt, weil in ihr Gott zum Ausdruck kommt. Die Bibel ist dann, wie bei Zwingli, das Mittel, die Welt zu verstehen, in ihr zu unterscheiden und in ihr und den Menschen Gott zu finden. (Andere Beschreibung des Summum Bonum: Die Güte Gottes, die unablässig tätige Güte Gottes ist Beschreibung des Lebensprozesses in Weltall, Steinen, Pflanzen, Tieren und in den Sphären des Geistes. Im Menschen kommen beide Lebensprozesslinien zusammen, beide ausgehend von Gott, und bringen den Menschen in inneren Konflikt, mit der Aufgabe, die Welt der Menschen zu gestalten, dem Lebensprozess Sorge zu tragen, und die Konflikte zwischen Materie und Geist in sich auszutragen und untereinander, um eine möglichst harmonische Dynamik des Lebens in Gang zu halten.) (Bei Zwingli klingt das so: "Denn wenn das Fleisch seine Untätigkeit und seinen Eigensinn bei der Ankunft des Fleisches ablegen würde, oder wenn der Geist bei der Verbindung mit dem Fleisch schwach würde, dann wäre der Mensch entweder ein Engel oder ein Tier. Damit der Mensch also eine eigene Gattung bleibt, ist es notwendig, dass beide Teile ihre Eigenart bewahren." IV,194f.) Zudem ist es in Zürich die gemeinsame Grundlage des Gesprächs, ausserhalb derer kein Gespräch möglich ist. Sie ist nicht Brauch und Herkommen, sie ist interpretierbar und trotzdem vorgegeben und kein Parteienstandpunkt. Deshalb wurde schon in der ersten Disputation, Januar 1523, verlangt, dass alle Argumente auf die Bibel zu stützen seien, dies natürlich auf Antrag Zwinglis. Der Verlauf der Disputation zeigt dann, dass mit Differenzen umgegangen werden kann, wenn sich beide Seiten auf die Bibel stützten oder zu stützen meinten, während die Vertreter der Berufung auf Tradition und Brauch regelmässig das Gespräch abbrachen und auf die Beschlüsse von Konzilien verwiesen. Denn die Disputationen waren von Papst und Kaiser schon verboten worden, und für die Klärung der Fragen wurde auf ein Konzil verwiesen. Warum aber sollte man warten? Zwingli hatte der bestehenden Kirche Grund und Berechtigung schon aus der Bibel abgesprochen, warum sollte man weiter auf sie hören? Warten konnten alle, die glaubten, dass das Leben erst im Jenseits wirkliche Wirklichkeit werden würde. Die Rückführung des gesamten gegenwärtigen Lebens auf Gottes Güte in Zwinglis Theologie machte das Warten überflüssig, ja wurde zum Diebstahl am Leben, und Verschwendung der Lebenskraft. Durch die humanistischen Studien hatte Zwingli längst ein Sprach- und Textverständnis entwickelt, das die Bibel in die antike Textwelt einrückte. (Pindar-Vorwort). Es wäre noch genauer zu untersuchen, wie Zwingli mit der Sprache umgeht. Jedenfalls stellt er die Forderung auf, die biblische Sprache mit den antiken Texten zu interpretieren, was erst in der Aufklärung wieder gefordert wurde. Zwingli hat die Vorstellung von der Seligkeit erwählter Heiden entwickelt, also dass von den bekannten Namen etwa Plato, Pythagoras, Seneca, Cicero, aber auch Herkules, Theseus, Sokrates, Numa Pompilius, Cato, die Scipionen zu den Seligen  zu zählen sind. (IV,234f.) Damit ist das geltende Gesetz, dass es ausserhalb der Kirche kein Heil gebe, gebrochen. Und es ist nicht korrekt, Zwingli eine Engführung des Denkens auf die Bibel allein in die Schuhe zu schieben. Ihm ging es um das Ganze der Kultur. Statt Reformation der Kirche Reformation des Lebens und lieber Athen als Urchristentum. Diese Haltung Zwinglis machte mir schon sein Interesse am Judentum wahrscheinlich, sie hatte eine posthume Folge, als sein Schüler Bibliander, der mit dem weichen Gemüt, es unternahm, den Koran auf Latein zu übersetzen, damit die Gelehrten diesen Text lesen konnten. In Basel wollte dann der Rat den Druck verbieten, liess es aber zu, als der Druckort nicht genannt wurde. Die Postulierung der Seligkeit erwählter Heiden wird meist als kuriose Eigenart Zwinglis behandelt, ich meine aber, dass dadurch ein entscheidender Punkt getroffen wird: die Ausschliesslichkeit nicht nur der Kirche, sondern des Christentums wird durchbrochen, es ist anderes möglich, und Gott ist auch dort, sogar ohne Christus. Ein Zeugnis des freien Geistes Zwinglis selbst, aber auch ein Anhaltspunkt, selbst in freiem Geist zu denken. In Zwinglis Theologie sind schon Denkstrukturen vorbereitet, die in der pluralistischen Welt funktionieren könnten. Zwingli kannte noch andere Erkenntnisquellen, zum Beispiel die Astronomie: "Denn wenn die Sterne auch Werkzeuge sind, durch die die göttliche Kraft sich ergiesst, so ist doch die Kenntnis ihrer Abläufe nichts anderes als die Kenntnis der göttlichen Wirksamkeit. Daher dürfen die Prediger, so wie ich das sehe, die Astronomie nicht mehr verachten als irgendeine andere Disziplin." Ich wage nicht daran zu denken, wenn sich die reformierte Theologie auf solchem Hintergrund entwickelt hätte, als die Astronomen die Welt anders kreisen liessen, oder als die Evolution des Lebens auf der Erde in Theorien gefasst wurde. Oder Zwinglis Bemerkungen zu Träumen: IV,254-256 Ich nehme noch zwei Zitate hinzu, die den inneren Krieg im Menschen schildern: "So schauen auf diese Weise beide Teile des Menschen immer zurück auf ihren Ursprung; die Seele lechzt nach Licht, Reinheit und Unschuld, da sie von Natur aus Licht und reine Substanz ist und Gerechtigkeit liebt - sie stammt ja von der Gottheit ab; der Körper neigt zur Untätigkeit , zur Starre, zur Finsternis und zum Stumpfsinn, da er von Natur aus faul und untätig und dem Verstand und der Vernunft fremd ist - denn er besteht aus Erde." (IV,182) "Da aber die Kraft beider Teile nicht unabhängig ist, sondern dem gegenwärtigen Gott zugehört, der das Sein, die Existenz und die Kraft aller Dinge ist, folgt daraus, dass durch seinen Willen und mit seinem Mitwissen das Fleisch dem Geist entgegenkläfft, während der Geist seinem Wort hörig sein möchte." (IV,195) Ausgehend von solchen Vorstellungen hätte die reformierte Theologie eigentlich eine Psychologie entwickeln müssen, die den inneren Konflikt des Menschen thematisiert. (Heute dagegen haben die meisten Theologen Mühe mit Freuds Psychoanalyse, weil die von der speziellen und endgültigen Offenbarung im Wort der Bibel ausgehen.)    

7) Gottesdienste und Studien
Zur Reformation des Lebens gehören auch die Umgestaltung der Messe zum Abendmahl und die Organisation der Bibelstudien. Täglich studierten die Gelehrten die Bibeltexte gemeinsam, anschliessend wurden die Resultate auf deutsch den Leuten vorgetragen, die es hören wollten. Universität und Erwachsenenbildung waren noch ganz nah verbunden. Denn es war Zwingli wichtig, dass die Leute möglichst viel an theologischer Bildung erhalten konnten. Stolz war er auf eine Streitschrift, die einige Handwerker aus Zürich gegen einen Doktor der Theologie geschrieben hatten und auf der Höhe der theologischen Argumentationen waren.   (Anzuschliessen wäre die Besprechung der Liturgie, die aber als speziell Studie ausserhalb bleiben muss. Hingegen wird das Abendmahl und der Streit vor allem mit Luther noch besprochen werden müssen. Zuvor aber hatten die Realisierungen der veränderten Theologie eine paradoxe Wirkung in der Entstehung des Täufertums. Deshalb:)    

8) Grundsätzliche Überlegung zur Entwicklung der reformatorischen Umgestaltungen  
Man liess in Zürich durch die Distanzierung von der traditionellen Kirche auch des kirchliche Recht wegfallen. Es entstand ein rechtsfreier Raum, im Bereich des Eherechts etwa, den man mit dem städtischen Ehegericht ausfüllte, und indem man das Eherecht neu gestaltete. Wesentliche Neuerung war die Einführung der Ehescheidung, mit der man auf die Schwächen der Menschen und die Möglichkeit der Unverträglichkeit zwischen Ehepaaren Rücksicht nehmen wollte. Denn man verstand die Sätze in den Evangelien als nicht absolut bindend, die Möglichkeit wurde offengelassen, also ergriff man diese Freiheit, menschenverträgliche Lösungen zu suchen. Zwinglis Linie bei der Neuordnung des Rechtssystems ist klar. Er hat sie in der Schrift "Von göttlicher und menschlicher Gerechtigkeit" dargestellt. Es gibt Rechtsfälle, die sich im Bereich des menschlich Erfassbaren bewegen und die deshalb auch der menschlichen Gerichtsbarkeit unterliegen, also Verbrechen wie Mord und Diebstahl, oder Handlungen wie Geldgeschäfte (wenn auch, wie Zwingli einmal bemerkt, die Kaufleute eine "nicht immer nützliche Menschengattung" sind), und alles andere mehr, das als Handeln beurteilt werden kann. Alles aber, das das Innere des Menschen betrifft, was religiöse Fragen und theologische Themen berührt, gehört in die göttliche Gerechtigkeit, und diese ist den Menschen entzogen. Glaubensfragen kann man diskutieren und unter bezug auf biblische Texte eventuell zur Entscheidung bringen, aber über den Glauben kann man nicht urteilen. Die menschliche Gerechtigkeit, d.h. auch der Staat, ist an die biblischen Bestimmungen gebunden, sofern dort klare Anweisungen zu finden sind. Was aber Gott nicht angeordnet hat, darf man den Menschen nicht in seinem Namen befehlen, und was er nicht verboten hat, darf man nicht in seinem Namen verbieten. Die Berufung auf die Bibel dient der Schaffung von Freiräumen und der Rechtfertigung von Selbstbestimmung gegen die Verhältnisse in der traditionellen Kirche. Fasten darf nicht vorgeschrieben werden, aber wer fasten will, darf es tun. Bilder malen ist nicht verboten, verboten ist nur die Herstellung von heiligen Werken. Der Negativbeweis liegt in der Zürcher Bibel von 1531 vor: auf der ersten Seite ist das Paradies abgebildet, und mitten drin Gottvater mit der Tiara. An einer Abbildung in einem Buch hat man sich nicht gestossen. Es war frei.   Die Verschiebungen sind oft fast nicht wahrnehmbar. Nehmen Sie als Beispiel den Satz: "Wer Gott liebt, tut was er will." Ich nehme an, Sie hören wie ich: Wer Gott liebt, tut was er, Gott, will. Das haben wir wahrscheinlich alle so gelernt; der Unterschied zur katholischen Kirche liegt nur darin, dass dort die Kirche sagt, was Gott will, während wir noch den Vorbehalt des Bibelverständnisses anbringen können. Zwingli würde den Satz anders verstehen: Wer Gott liebt, tut was er, der Mensch will, was nebenbei auch grammatisch korrekt wäre. Allerdings denkt Zwingli das so, weil Mensch und Gott in eins zusammenfallen. Diese mystische Dialektik war nicht allen verständlich. Die Täufer als eine der Gruppen, die dies nicht verstanden, haben nur die sozusagen äussere Theologie Zwinglis wahrgenommen oder wahrnehmen können. Sie hörten die Argumentationen und Vorschläge zur Umgestaltung des Lebens, sie hörten die Auslegungen der Bibel. Die innere Theologie, die Zwingli aus seinem Lebensgefühl konzipierte und mit der er Eidgenossenschaft, Renaissance und existentiellen Ernst verband, haben sie nicht wahrgenommen, weil Zwingli nur sozusagen in Nebensätzen diese Konzeption anbringt und erst 1530 diese Theologie beschreibt (De providentia). Ich denke aber, dass es auch nicht im Interesse der Täufer lag, vielleicht ausserhalb ihres Horizontes, was Zwingli über Gott und sein Wirken in der Welt dachte. Sie entwickelten aus dem Neuen Testament ein urchristliches Leben und wollten ebenso leben, wie ein kleines Grüppchen unter den feindseligen, römisch-katholischen Heiden. Durch die Rechtfertigung im Glauben - was ein lutherisches Konzept ist! - fühlten sie sich heiliger als die andern und entzogen sich der Gemeinschaft. Die politische Schwäche der Täufer täuscht über die Machtstruktur oder die Gewalttätigkeit ihres Glaubens hinweg. Die Probleme zeigten sich in dieser Zeit, sobald die Täufer Macht erlangten und sie in Richtung einer Diktatur entwickelten, was auch bei ähnlich gelagerten missionarischen Gemeinden heutzutage zu beobachten ist. Zwingli war das alles fremd, und er wurde für die täuferischen Wortführer zum Schreckgespenst, dem sie vorwarfen, von seinen früheren Ansichten abgerückt zu sein. Das betraf insbesondere die Kindertaufe. Die Täufer hielten sie für widerchristlich, weil der Taufe der Unterricht und die Entscheidung vorausgehen müsse, wie der Urchristen im römischen Reich. Zwingli dagegen hielt die Taufe für ein Zeichen göttlicher Gnade und der Zugehörigkeit zur menschlichen Gemeinschaft. Den Unterricht konnte man nachholen. Da es keine biblische Vorschrift gab, fühlte sich Zwingli frei, die Kindertaufe beizubehalten. Ich denke, dass seine Vorbehalte durch das Misstrauen gegenüber der Kirche genährt waren, das den Verdacht aufkommen liess, die kleinen Kinder in das religiöse Machtsystem der Kirche einzubauen. Die Täufer jedoch führten in seiner Sicht wieder menschliche Gesetze ein und erklärten sie erst noch für heilsnotwendig. Die Folge war, dass sich die Täufer innerhalb der reformierten Stadt mit ihrem Umland als auserwählte, quasi heilige Gruppe verstand, als die wahren Christen. Zwingli sah darin einen Rückfall in die katholischen Zustände: wieder war das Heilige in einem separaten Teil der Welt greifbar, auch wenn es jetzt lebendige Personen waren. Das konnte er nicht zugestehen. Im Gegenteil, das war die alte Geschichte der Aufruhr gegen die Menschen, wie es in dem Buch "Wer Ursache zum Aufruhr gibt" dargelegt und entwickelt ist. Es geht darin eigentlich um die Bauernunruhen, die in Deutschland zum Bauernkrieg führten, in Zürich aber mit Verhandlungen beigelegt werden konnten. Es ging um die Bezahlung der Steuern, damals des Zehnten und was alles noch hinzugekommen war. In den Verhandlungen erreichten die Bauern, dass neuhinzugekommene Steuern wegfielen und dass die Leibeigenschaft abgeschafft wurde, beides mit Unterstützung Zwinglis. Die wahren Aufrührer sah Zwingli sowieso nicht in den Bauern, sondern im Adel und noch mehr im Klerus, die sich über die anderen Menschen stellten und sie unterdrückten und ungerecht an ihnen handelten. Die Täufer wollten überhaupt keine Steuern bezahlen und mit dem Staat nichts zu tun haben, um sich nicht mit weltlichem zu beschmutzen. Ich denke, meine Darstellung von Zwinglis Denken hat gezeigt, dass das völlig gegen seine Intentionen war. Dennoch hat man mit den Täufern geredet. Es ist diesen jedoch nie gelungen, ihre Anschauungen genügend klar aus der Bibel, wie es gefordert war und sie selbst es behaupteten, zu belegen. Das Problem des Staates war das Agitieren der Täuferführer und ihre Staatsfeindlichkeit. Es kamen noch Exzesse und chaotische Zustände hinzu, und somit nahm man einige der bedeutendsten gefangen. Nach wiederholten Ermahnungen griff man schliesslich, mit grossen Bedenken Zwinglis, zur Todesstrafe. Andere Täufer wichen aus; in katholischen Gebieten wurden sie ohne Bedenken sofort hingerichtet. Einer von ihnen, Dr. Balthasar Hubmaier, wurde als Ausländer ausgewiesen. Da er, um Zürich zu verlassen, über feindliches Gebiet hätte reisen müssen, gab man ihm sicheres militärisches Geleit bis in den nächsten sicheren Ort. Er wurde später in Wien hingerichtet. Ich werde den Täufern sicher nicht gerecht, aber es ist fast nicht möglich, bei ihnen einen gewissen Fanatismus zu übersehen, den man natürlich als Glaubenseifer oder Glaubensstärke verstehen kann. Und ich möchte noch in Erinnerung rufen, dass Zwingli die Kindertaufe mit der jüdischen Beschneidung gerechtfertigt hat, was die Täufer, die auf das Neue Testament fixiert waren, nicht verstehen konnten. Dies ist die eine Seite meiner These, dass die Reformationsbewegung wesentlich an der Stellung zum Judentum auseinandergebrochen ist.
 
9) Glauben
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